So sitzt sie vor mir – eine freundliche alte Dame mit kurzen grauen Haaren. Sie trägt ein Lächeln im Gesicht, das ich schon spüren konnte, als sie in die Gegensprechanlage der Klingel ein leises „Hallo, wer ist da?“ sprach. Zwei Grübchen zieren ihre Wangen, wenn sie die Lippen zum Lachen breit zieht. An ihrer Stimme höre ich, dass sie nach ein paar Minuten des Sprechens heiser wurde und dass ihr Sprechtempo nach und nach sank. Sie fand die Worte nicht, um mit mir ein luftig-lockeres Gespräch zu führen. So ließ ich mir dennoch durch ihre Alltagsfloskeln und kurzen Antworten ihre Lebensgeschichte erzählen und hörte gespannt zu. Eine Frau, die eine neurologische Krankheit einen Tag vor Weihnachten diagnostiziert bekommt, während sie mittlerweile zum mehrfach wiederholten Male bei der Chemotherapie war.
Das Lächeln behalten – das Lächeln, das uns ein Leben lang begleitet hat. Es auch in schweren und scheinbar ausweglosen Momenten des Lebens zu behalten ist wohl nicht selbstverständlich für jeden. Und es ist verständlich, dass es nicht selbstverständlich ist. Wie soll es das auch sein, wenn das Leben vermeintlich nur noch aus Arztbesuchen, Therapien und speziellen Beachtungen bei der Nahrungsaufnahme besteht? DOCH: wieso soll es das nicht? Wieso nicht schätzen lernen, dass ich lebe – dass ich lebe und bin. Dass ich ein Mensch bin, der ein Leben lang gekämpft, gelebt, geliebt, gelacht, geweint, gescherzt und geflucht hat – und immer noch dazu in der Lage ist, wenn ich auf die Momente meines Lebens zurückschauen kann.
Was macht das Leben lebenswert? Für den einen ist es der Hund, für den anderen der Porsche, der in der Garage steht und bei schönem Wetter ausgefahren wird. Vielleicht ist es auch der Duft der Rosen, den ich jedes Jahr im Garten riechen kann, wenn ich den Weg mit den moosbedeckten alten Steinen hinunterlaufe oder es ist die Familie, die sich mittlerweile in keinem aller Wohnzimmer mehr treffen kann, weil die Kinder der Enkelkinder und die Tanten der Schwestern den Freund des Opas zu Festen einladen. Definitionssache, das mit dem Leben und der Lebenswertigkeit.
Es ist für mich beeindruckend, wie viel Kraft trotz Schwäche, wie viel Lächeln trotz Tränen, wie viel Motivation trotz Frust und wie viel Leben trotz Krankheit in den Menschen steckt, die all die positiven Facetten zulassen. Und sind wir mal ehrlich – wie oft jammern wir über die Kleinigkeiten, die uns auf die Palme bringen, über die wir wütend sind – die im Nachhinein einen Lacher wert waren? Oder sogar ein Lächeln?
Als Therapeut/in kennen wir das – wir sind ärgerlich darüber, wenn einfach ein Patient nicht zur Therapie kommt oder enttäuscht, wenn etwas nicht mehr so gut geklappt hat, wie in der letzten Stunde. In der Zeit dieses Ärgers könnten wir uns auch einfach die alte, grauhaarige Dame in Erinnerung rufen & dankbar sein für das, was wir haben.